In der Bildungslandschaft Baden-Württembergs
hat die Förderschule eine wichtige Funktion. Sie schafft Bildungsräume,
die dazu geeignet sind, Kinder und Jugendliche mit einem besonderen
Bedarf an schulischer Förderung, gemäß ihren individuellen Möglichkeiten
zu unterrichten. Individualisierung und eine sehr differenzierte Lern-
und Entwicklungsbegleitung bilden die Grundlagen jedes Lernens an der
Schule und haben speziell in der Förderschule eine lange
Tradition.
In diesem Zusammenhang spielen außerschulische Bildungsräume eine
zentrale Rolle. Sowohl die Kooperation mit außerschulischen Partnern,
als auch das Lernen an außerschulischen Lernorten stellen heute
wichtige Bestandteile der pädagogischen Arbeit an Förderschulen
dar.
Durch die Nutzung dieser außerschulischen Ressourcen können die Schülerinnen
und Schüler der Förderschule - im Sinne eines Empowerment-Prozesses -
dazu in die Lage versetzt werden, ihre individuellen Potentiale auszuschöpfen.
Aktivität
und gesellschaftliche Teilhabe von Förderschülern ist das Ziel, das
der neue im Schuljahr 2008/2009 in Kraft tretende Bildungsplan vorgibt.
Dieser hohe Anspruch bedeutet für alle Förderschulen im Land, dass sie
Rahmenbedingungen schaffen müssen, die diesem Anspruch gerecht
werden. Eine Form der Umsetzung ist mit Sicherheit, sich im Rahmen der Möglichkeiten
des Umfeldes der einzelnen Schulen, Kooperationspartner mit ins Boot zu
holen, die die Arbeit der Schulen sinnvoll ergänzen.
Die
Kooperation Förderschule - Gymnasium bietet sich in diesem Zusammenhang
geradezu an. Sie ist deshalb
so wertvoll, weil sie grundlegende Lernprozesse anregt. In der Begegnung
zwischen Förderschülern und Gymnasiasten spiegelt sich nämlich
der Grundsatz des Lernens als soziale Auseinandersetzung mit
anderen wieder.
Für Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen, ist
der Kontakt zu Gymnasiasten ein wichtiger Schritt zur sozialen
Integration, der letztendlich ihre Aktivitäts- und Teilhabemöglichkeiten
im Gemeinwesen erweitert. Zudem werden gegenseitige Vorurteile abgebaut
und soziale Kompetenzen gefördert. Die Begegnung der Schülerinnen und
Schüler dieser Schularten ist also dadurch gekennzeichnet, dass beide
Seiten davon profitieren können und so eine idealtypische pädagogische
win–win-Situation entsteht.
Der Abstand in der Bildungshierarchie bewirkt, dass die Schülergruppen
keine Konkurrenzsituation erleben, die häufig zu Abgrenzungstendenzen
zwischen Schülerinnen und Schülern verschiedener Schularten führt.
Des Weiteren ist ein Einstieg in eine solche Zusammenarbeit leicht durch
einzelne überschaubare Projekte möglich.
In der Praxis der schulischen Arbeit haben sich in Baden-Württemberg
bereits viele Förderschulen und Gymnasien auf einen gemeinsamen Weg
gemacht, aus denen sich sehr vielfältige Projekte und
Kooperationsformen entwickelt
haben.
Ziele und Wirkungsbereiche
Sozialintegrative
Elemente:
In der heutigen
gesellschaftlichen Realität, sind die Berührungspunkte zwischen
Jugendlichen aus verschiedenen Schularten immer weniger gegeben. Das
Miteinander von Jugendlichen mit verschiedenen Sozialisationen erweitert
ihre Handlungs- und Kommunikationsfähigkeiten. Sie erfahren sich in
einem neuen sozialen Kontext und stärken dadurch ihr Selbstvertrauen.
Die Schüler der Förderschule bekommen durch Begegnungen in gemeinsamen
Lernsituationen und Unternehmungen mit den Gymnasiasten die Möglichkeit
der sozialen Teilhabe.
Abbau
von Vorurteilen:
Sowohl bei den Gymnasiasten, als auch bei den Förderschülern gilt es
Vorurteile und Ängste abzubauen, um zu einer gegenseitigen Akzeptanz zu
kommen. Weder das Klischee des „dummen und faulen“ Förderschülers,
noch das des „reichen, verwöhnten“ Gymnasiasten sind nach
gemeinsamen Aktionen aufrecht zu erhalten. Vielmehr wird ein
Kompetenzzuwachs im sozialen Miteinander angestrebt und somit eine
Steigerung der Handlungsspielräume und des Selbstbewusstseins der Schülerinnen
und Schüler.
Sozialerzieherische
Elemente:
Schüler beider Schularten lernen Kinder und Jugendliche kennen, die eine
teilweise andere Lebens- und Lernbiographie haben als sie selbst. Schülerinnen
und Schüler des Gymnasiums übernehmen Verantwortung in konkreten Lern -
und Lebenssituationen mit den Förderschülern. Dabei machen sie
Erfahrungen, die sehr prägend und persönlichkeitsbildend sind auch im
Hinblick auf die spätere Berufswahl.
Erwerb
von Schlüsselkompetenzen:
Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit,
Durchhaltevermögen, Problemlösungs- strategien sind Kompetenzen, die zu
den wichtigsten Bildungszielen aller Schularten zählen. Sie werden in den
verschiedenen Handlungsfeldern, die die Kooperation ‚Förderschule –
Gymnasium’ ermöglicht in geradezu exemplarischer Weise vermittelt.
Förderung
von handlungsorientierten Lernprozessen:
Handlungsorientiertes Lernen
gehört zu den wichtigsten nachhaltigen Lernprozessen an den Schulen.
Sozialen Kompetenzen können dann besonders gut erworben werden, wenn sie
in ein sinnvolles und reales Betätigungsfeld eingebunden sind. In der
Begegnung zwischen den Gymnasiasten und den Förderschülern wird –
eingebettet in einen schulischen Rahmen – Lernen durch soziale
Interaktion ermöglicht. Das gegenseitige auf einander Eingehen der
Jugendlichen schafft Raum um soziale Kompetenzen zu entwickeln und zu
erproben aber auch um eigene
Grenzen zu entdecken.
Darüber hinaus bietet die Zusammenarbeit der beiden Schülergruppen für
die Gymnasiasten die Möglichkeit, über das Thema Lernschwierigkeiten zu
reflektieren und so eigene Lernprozesse zu hinterfragen. Der gymnasiale
Schwerpunkt „ Das Lernen lernen“ wird so zum realen Handlungsfeld.
Durch
Kooperation zur Teilhabe
Berger Schule und Evangelisches Heidehof-Gymnasium gemeinsam auf dem Weg
Mit der Berger Schule und dem
Evangelischen Heidehof-Gymnasium machen sich zwei Schulen gemeinsam auf
den Weg, die kaum unterschiedlicher sein könnten: Auf der einen Seite
eine Förderschule, die im Stuttgarter Osten (innerstädtische Lage)
gelegen ist und auf der anderen Seite ein im gleichen Stadtteil, in Halbhöhenlage
gelegenes Gymnasium in freier Trägerschaft.
In
der Verschiedenheit liegt der
Reiz dieser Partnerschaft von der beide Schulen profitieren: Es entstehen
Begegnungen und daraus resultierende Erfahrungen, die für alle Schülerinnen
und Schüler sehr prägend und persönlichkeitsbildend sind.
Mit
Sicherheit ist es sehr förderlich, dass das Evangelische
Heidehof-Gymnasium ein sozial ausgeprägtes Schulprofil hat. Dies bedeutet
für die Schüler der Schule, dass sie diesem Profil verpflichtet sind,
und die Berger Schule einen von mehreren Partnern in diesem Bereich
darstellt.
Die
Kooperation besteht mittlerweile seit 10 Jahren und ist fester Bestandteil
des Schulprogramms der beiden
Schulen. Begleitet wird sie durch jeweils zwei Lehrerinnen und Lehrer der
Schulen, deren außerordentliches Engagement
sowohl von der Schulleitung als auch durch das Kollegium sehr hoch
anerkannt wird.
Im Schuljahr 2007/2008 waren insgesamt 44 Gymnasiastinnen und Gymnasiasten
und 35 Schülerinnen und Schüler der Berger Schule an gemeinsamen Aktivitäten
beteiligt. Wichtig ist, dass außer den Schülern, den Kollegien und den
Schulleitungen, auch die Eltern, sowohl der Berger Schule, als auch des
Evangelischen Heidehof-Gymnasiums, von der Bedeutung und dem gegenseitigen
Nutzen der Kooperation überzeugt sind. Zu den Rahmenbedingungen der
Kooperation gehören natürlich auch gemeinsame Besprechungen der
beteiligten Lehrerinnen und Lehrer, regelmäßige Sprechstunden für die
Schülerinnen und Schüler, sowie regelmäßige Besprechungen auch auf
Ebene der Schulleitungen.
Umsetzung: Projekte und
Maßnahmen
1. Die Lernwerkstätten
In den Lernwerkstätten
(Mathematik, Deutsch, Englisch, Hausaufgaben) an der Berger Schule betreuen
Gymnasiasten unter Anleitung von Sonderpädagogen Schüler der
Förderschule am Nachmittag. Sie bereichern damit das Bildungsangebot und
die Erfahrungsbereiche der Förderschüler.
2. Die Englisch -AG
Für Schüler der Berger Schule wird
im Heidehofgymnasium von den Gymnasiasten unter fachlicher Leitung eines
Gymnasiallehrers eine Englisch–AG angeboten. Für die Förderschüler
besitzt dieses ergänzende Angebot einen hohen sozialen Stellenwert. Die
Teilnahme bzw. die Leitung wird in den Zeugnissen der jeweiligen Schule vermerkt.
3. Die Patenschaft
Über
die gemeinsame Arbeit in den Lernwerkstätten hinaus, gibt seit es seit dem Schuljahr 2006/2007 die Möglichkeit der Patenschaft. Die „Heidehof-Paten"
sind Ansprechpartner und Vertrauensperson für einen Schüler der Berger
Schule. Gemeinsame Unternehmungen - auch in der Freizeit - ermöglichen
und fördern freundschaftliche Beziehungen.
4. Das Sozialpraktikum
Alle Schüler des Evangelischen Heidehof-Gymnasiums sind verpflichtet
ein 3-wöchiges Sozialpraktikum zu absolvieren und können dies an der
Berger Schule tun. Sie erhalten dabei Einblicke in die Lebenswelt der
Förderschüler. Sie lernen persönliche und gesellschaftliche
Hintergründe von Kindern und Jugendlichen mit Lernbeeinträchtigungen
kennen. Das gemeinsame Lernen von Schülern aus vielen Nationen an der
Berger Schule ermöglicht den Gymnasiasten Einblicke in das Handlungsfeld
Migration.
5. Gemeinsame
Schullandheimaufenthalte
Regelmäßig werden Schülerinnen
und Schüler der Klasse 7 der Berger Schule von Gymnasiasten ins
Winterschullandheim begleitet. Beim Langlaufen und beim gemeinsamen
Gestalten der Freizeit findet gegenseitiges Kennen lernen statt. Begleitet
werden die Schullandheime von Lehrerinnen und Lehrer beider Schulen.
6. Gemeinsames Theaterspielen
Ein neuer Ansatz in der Kooperation zwischen dem Evangelischen
Heidehof-Gymnasium und der Berger Schule stellen gemeinsame
Theaterprojekte dar. Theaterpädagogik ist in ganz besonderer Weise dazu
geeignet, die Schüler beider Schulen auf gesellschaftliche
Herausforderungen vorzubereiten.
Schlüsselqualifikationen wie Kommunikations- und Teamfähigkeit,
sprachliche Kompetenz, kreatives und selbstständiges Arbeiten, sowie
soziale Kompetenz werden durch das Theaterspielen vermittelt und das
Selbstkonzept insbesondere der Förderschüler gestärkt.
Entscheidend ist, dass im Theater die Rollen der Schülerinnen und Schüler
der einzelnen Schulen - im wahrsten Sinne des Wortes - neu verteilt
werden. Durch das gemeinsame Theaterspielen kann somit eine Begegnung auf
Augenhöhe stattfinden, die in anderen Bereichen der Kooperation so nicht
gegeben ist.
Durch gemeinsam erarbeitete Theaterstücke, die vor „großem Publikum“
auf einer echten Theaterbühne aufgeführt werden, entsteht eine neue
Qualität in der Begegnung der Schülerinnen und Schüler des
Evangelischen Heidehof-Gymnasiums und der Berger Schule.
Anmerkungen aus dem Blickwinkel
des Heidehof-Gymnasiums
Schulische Arbeit leidet sehr oft
unter dem Verdacht nur theoretische Arbeit zu sein, Arbeit in einem
Simulationsfeld ohne wirkliche Relevanz im erlebbaren Raum, im wirklichen,
echten Leben. Vielleicht ist es deshalb in einem besonderen Maß Aufgabe
jeder weiterführenden Schule, Schülerinnen und Schülern Erfahrungen zu
ermöglichen, die sich nicht auf die Auseinandersetzung mit Papier, Text
und Bildschirm beschränken, sondern konkretes Erleben einbeziehen.
Am Evangelischen Heidehof-Gymnasium
ist es jahrzehntelange Tradition, Schüler mit verschiedenen Praxisfeldern
zu konfrontieren. So haben wir in den 70er Jahren das Praktische Fach und
das dreiwöchige Soziale Praktikum eingeführt, in den letzten Jahren kam
noch das Projekt Tätige Nächstenliebe dazu.
Seit mehr als 10 Jahren gehört die
Kooperation mit der Berger Schule zu den Feldern, in denen Schülerinnen
und Schüler unserer Schule, Schülerinnen und Schüler der Berger Schule
in einem geschützten, gleichwohl von ihnen selbst gestalteten und jeweils
neu zu gestaltendem Freiraum zusammen kommen.
Beide Elemente sind von zentraler Bedeutung: Die Begegnungen finden in
einem definierten Raum statt: es handelt sich zum Beispiel um die Lernwerkstatt, die
Englisch-AG oder ein Theaterprojekt. Gleichzeitig aber
ist das jeweilige Zusammentreffen stark von den einzelnen Personen
abhängig, es geht um die Individualität des Einzelnen, es ist nicht
egal, wie sich die Einzelnen verhalten, es steht etwas auf dem Spiel, es
kann gelingen oder auch nicht.
Dieses Element ist von unschätzbarem Wert auch für die teilweise den
normalen Begegnungen mit Nicht-Gymnasiasten entwöhnten Gymnasiasten, die
im verkürzten Gymnasium (G8) immer weniger Zeit haben, am Nachmittag auf
Bolzplätzen oder in Sportvereinen mit Schülerinnen und Schülern anderer
Schulformen zusammen zu kommen.
(Vittorio Lazaridis, Dr. Berthold Lannert))