Pädagogische Beiträge

                         Berger Schule

 

 
 
     
         
     
         
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
         
     
     
         

Migranten machen Schule!
Thesen zur Sache

„Migranten machen Schule!“ ist ein Projekt der Stabsabteilung für Integrationspolitik der Landeshauptstadt Stuttgart (www.stuttgart.de/migranten-machen-schule) mit dem Ziel, junge Menschen mit Migrationshintergrund zu ermutigen, bei ihrer Berufswahl auch daran zu denken: vielleicht werde ich Lehrerin, Lehrer?  

In einer Broschüre werden 12 Stuttgarter Lehrerinnen und Lehrer, aus unterschiedlichen Schularten, mit unterschiedlichen Fächern, mit vielfältigen Bildungs- und Berufsbiographien porträtiert – sie alle haben „Migrationshintergrund“, kommen selbst aus anderen Ländern oder sind Kinder von zugewanderten Eltern.

Grundlage der Broschüre waren biographische Interviews, die schnell deutlich machten: das begonnene Projekt wird mehr als eine Broschüre …!  

E:\Tagung_Urach07\AG2 Checkliste 023.JPGEin gemeinsamer Workshop mit den am Projekt beteiligten Lehrpersonen und Lehramtsstudierenden war der Rahmen für erste inhaltliche Überlegungen zur Frage:

Migranten machen Schule! – warum?

Und: Was ist unsere ganz spezifische Rolle als Lehrerin, Lehrer mit Migrationshintergrund?

Die Arbeitsergebnisse sind Ausgangspunkt für die nachfolgenden fünf Thesen, vorgetragen bei der Auftaktveranstaltung des Projekts „Migranten machen Schule!“ am 1. Juli im Stuttgarter Rathaus.

 Ein persönliches Erlebnis von Vittorio Lazaridis als Schulleiter vorne weg:

Vor kurzem wurde mir auf einer Veranstaltung die Frage gestellt, ob Menschen mit Migrationshintergrund die besseren Lehrer sind. Diese Frage hat mich seither sehr beschäftigt und letztendlich bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es gar nicht um ein „besser“ oder „schlechter“ geht, sondern um mehr Professionalität im Lehrerberuf – für alle!  

Es geht um das Bewusstwerden von Vielfalt in der Schule und das Aufdecken der Chancen, die in dieser Vielfalt liegen. Dazu können Lehrer mit Einwanderungsbiographien einen besonderen Beitrag leisten - wie dieser aussehen kann, dazu fünf Thesen:

 

1.      Perspektivenvielfalt einbringen  

Zuwanderungsgeschichte, Migrationserfahrung bringt mit sich: es gibt mehrere Perspektiven!

Das fängt beim Frühstück, den kulturell geprägten Essensgewohnheiten an, geht über das persönliche Erleben einer anderen Familienkultur bis zu den Erfahrungen in anderen Schulsystemen …

Es geht – für alle Lehrerinnen und Lehrer – darum sensibel zu sein gegenüber der vorhandenen Vielfalt der Schülerinnen und Schüler und es geht für Lehrpersonen mit Migrationshintergrund darum, diese in der eigenen Biographie begründete erweiterte Perspektive, diesen Sichtwechsel in die Schule hinein zu transportieren. Das kann bedeuten, auf der Ebene des Unterrichts verschiedene Sprachstrukturen oder Rechenmethoden zu vergleichen, Musik, Literatur, Religionen aus den Herkunftsländern der Schülerinnen und Schüler zu thematisieren – und dabei als Lehrer mit Migrationshintergrund exemplarisch die eigene „zweite“ Perspektive einzubringen und so für alle Beteiligten fruchtbar zu machen.

Das gilt für die „Perspektiven-Vielfalt“ im Lehrerzimmer – allerdings: die vereinfachte Variante, unabhängig von der jeweils konkreten Zuwanderungsgeschichte nun von „den Migranten“ zu sprechen, greift zu kurz, verstellt den Blick auf die Notwendigkeit, Heterogenität, Vielfalt jeweils vor Ort konkret und facettenreich wahrzunehmen und im Schulalltag für alle Beteiligten erlebbar zu machen.

Und die Perspektivenvielfalt gilt es in besonderem Maß im Kontakt zu Eltern einzubringen:

Besonders in Gesprächen mit Migranteneltern ist es nicht nur hilfreich, selbst verschiedene Perspektiven zu kennen, sondern von großer Bedeutung, von den Eltern selbst als jemand mit der „zweiten Perspektive“ erfahren zu werden.

 

2.  „Insiderwissen“ fruchtbar machen  

Lehrer mit Zuwanderungsgeschichte haben ein ganz alltägliches Wissen über kulturelle Unterschiede, das Wissen um andere Alltagsregeln und Gewohnheiten, um andere Vorstellungen von Schule, Erwartungen an die Lehrkräfte, andere Konzepte von Familie und Freundschaft in unterschiedlichen Gesellschaften und Kulturen – dieses alltägliche „Insiderwissen“ gilt es zu nutzen. Denn es ist mehr als nur Alltagswissen: es ist ein möglicher weiterer Baustein für mehr Professionalität in der Schule.

Damit der Kompetenztransfer von individuellen Kenntnissen und Kompetenzen in das Kollegium Praxis wird müssen nicht zuletzt auch die Kommunikationsstrukturen im Lehrerkollegium hinterfragt werden. „Warum fragt mich keiner der Kollegen?“ meinten mehrere der befragten Lehrpersonen in den Interviews - Diese Ressourcenverschwendung können wir uns nicht erlauben!

 

3.   Allen Lust zum Lernen machen – ermutigendes Vorbild sein  

Alle Lehrerinnen und Lehrer stehen vor der Aufgabe, den Wert von Bildung – für alle Schülerinnen und Schüler und für ihre Eltern – bewusst zu machen.

Lehrer mit Migrationshintergrund können beispielhaft dafür stehen, dass man sich seinen Platz in der Gesellschaft über Bildung erarbeiten und sichern kann. Es geht letztendlich darum, gerade jene, für die Schule, gar Hochschulen und Universitäten eine fremde Welt sind, zu ermutigen, Bildung als „die Chance“ zu begreifen. Viele der Migranten stehen den deutschen Bildungsinstitutionen mit großer Distanz gegenüber – Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund wirken für sie als ganz persönliche Vorbilder für eine gelingenden Bildungsbiographie und Integration.  

4.      Wertschätzend fördern  

Es ist eine Binsenweisheit: Kenntnisse der deutschen Sprache sind unabdingbar für eine gelingende Bildungsbiographie. Das erfordert häufig eine zusätzliche Förderung. Dabei geht es aber vor allem um die Qualität der Förderung.  

Eine gute Förderung ist immer eine „wertschätzende Förderung“.

Dies bedeutet konkret, dass es kein Defizit darstellt, wenn Kinder albanisch, italienisch, kroatisch oder türkisch sprechen. Diese Kinder bringen im wahrsten Sinne des Wortes einen Sprachschatz mit, der durch die deutsche Sprache erweitert wird. 

Und das bedeutet auch, allen Lehrpersonen die Bedeutung der Herkunftssprache, der Familiensprache bewusst zu machen, sie wertzuschätzen und im Unterricht produktiv nutzen zu können.  

Zum wertschätzenden Fördern gehört, sich offen, kenntnisreich und sensibel verschiedenen Familienstrukturen, religiösen Ausrichtungen und kulturellen Traditionen der Schüler und ihrer Familien zuzuwenden. Eltern mit Migrationsgeschichte müssen ermutigt werden, sich mit dem was ihnen wichtig ist, in das Schulleben einzubringen. Oft sind gerade sie sehr zurückhaltend und brauchen – als Signal gegen die „Fremdheit“ – ein Mehr an Zuwendung und Ansprache.  

Und diese wertschätzende Perspektive ist nicht zuletzt ein Element der Qualitätssicherung schulischer Lernprozesse, indem sie gute emotionale Grundlagen schafft und so ein nachhaltiges Lernen ermöglicht und fördert.

 

5.      Schule und Lehrerbildung aktiv mitgestalten


 
Im Einzelfall mag es ganz hilfreich sein, wenn man einen Lehrer oder eine Lehrerin mit ausländischen Wurzeln im Kollegium hat: „Mit dem Francesco da stimmt was nicht - reden Sie doch mal mit dem Eltern darüber, Sie sind doch auch Italiener ...“

Sicherlich kennen alle Lehrer mit Migrationshintergrund solche Aufforderungen von den Kollegen – natürlich übernimmt man diese Aufgabe, das alleine aber ist zu wenig!  

Die Schule der Vielfalt braucht Lehrpersonen, die sich alle und gemeinsam der kulturellen und sozialen Heterogenität der Gesellschaft und somit der Schule stellen. Der Umgang mit Heterogenität ist eine Querschnittsaufgabe in allen Schulentwicklungsprozessen.  

Zurück zur Ausgangsfrage:

Worin besteht die spezifische Rolle von Lehrerinnen und Lehrern mit Migrationshintergrund?

Sie bringen die „zweite Perspektive“ ein. Sie wirken als Person als „Vorbild“. Und sie besitzen „Insiderwissen“ über Mehrsprachigkeit und unterschiedliche gesellschaftliche und kulturelle Kontexte.  

Für die Schulentwicklung bedeutet das ein noch kaum genutztes Potenzial an Anregungen – und an wichtigen Fragen.
Für die Lehrerbildung bedeutet das, diese Ressourcen für die Gestaltung der Qualifizierung aller Lehrerinnen und Lehrer zu nutzen – das bedeutet auch:
Wir brauchen Standards in der Lehrerausbildung im Umgang mit kultureller Heterogenität!  

Migranten als Lehrer wollen damit einen Anstoß für eine weitere Professionalisierung des Lehrerberufs geben, diesen Prozess begleiten und fördern.  

Dafür muss man grünes Licht bekommen!  

Vittorio Lazaridis und Elisabeth Rangosch-Schneck[1]



[1] Vittorio Lazaridis, Schulleiter der Berger Schule in Stuttgart/ Geschäftsführender Schulleiter Sonderschulen, Stuttgart und Mitglied im Internationalen Ausschuss der Landeshauptstadt Stuttgart

Elisabeth Rangosch-Schneck, freie Mitarbeiterin bei der Stabsabteilung für Integrationspolitik der Landeshauptstadt Stuttgart und Lehrbeauftragte an der Philipps-Universität Marburg/L.

 

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